Ach ja, wie alt sind sie eigentlich? 45. Vera Handrich wird diesen Moment nie vergessen: „Es war, als wäre ein Eisbrocken ins Zimmer gefallen“. Vielen Dank. Wir melden uns. Du bist zu alt. Alter? Alt werden? Alt sein? Das ist eine Kategorie, mit der sich Vera nie beschäftigt hatte. Bis sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben um Bewerbungen kümmern muss.
Anfang der neunziger Jahre wird die Grafikerin arbeitslos. Nach einer Computerweiterbildung vom Arbeitsamt verschickt sie, wie ihre jüngeren Kollegen – dutzendweise Bewerbungen. Sie ist die einzige, die nur Absagen bekommt. „Das war ein Schock.“ Denn da steht plötzlich vor ihr, mit großen Lettern: „Du bist zu alt.“ Sie war gefangen im Käfig der Lebenszeit. Undenkbar für eine, die das Leben als endlose Entdeckungsreise versteht.
Lass um Gottes Willen Dein Alter raus. Schick nur einen Werdegang ohne Geburtsdatum und Schule.
Die es aussaugt bis in die letzten Winkel. Die nach ihrer Grafikausbildung in München Ende der 60er immer wieder Neues erkundet. Viereinhalb Jahre zieht sie nach Indien mit Mann und Kindern, unterrichtet Grafik an Goethe-Instituten in Afghanistan, im Iran, Pakistan. Später geht sie nach Hawai, stellt Papier her, baut eine Rückenschule auf. In Berlin entwirft sie Beschriftungen für Gartenschläuche und Layouts für einen Filmverleih, stemmt Projekte für Nachwuchskünstler und malt Buchstabenbilder auf Bettwäsche. Wenn Vera mit Jüngeren spricht, sagt sie nicht, ich bin älter als Du, sondern: Ich bin halt etwas länger da. Vera Handrich: „Es ist doch Wahnsinn, dass man irgendwann nicht mehr mittun darf.“
Fast ein Wunder
Irgendwann rät ihr eine befreundete Personalerin: „Lass um Gottes Willen Dein Alter raus. Schick nur einen Werdegang ohne Geburtsdatum und Schule.“ Seitdem wird Vera ab und zu eingeladen. Doch immer ist es dasselbe Spiel: Tolles Gespräch, konkrete Pläne. Irgendwann die Frage nach dem Lebenslauf. Der Blick auf das Geburtsjahr. „Danke. Rufen Sie uns nicht an. Wir rufen Sie an.“ Schluss. Wie damals, bei dem Berliner Postkartenanbieter. Der morgendliche Blick in die Stellenanzeigen und das Eintüten der Bewerbungen werden „alltäglich wie Zähneputzen“. Als Vera nach 296 Bewerbungen einer fragt: „Wann können Sie anfangen?“, kann sie es kaum glauben. Zwei Jahre lang gestaltet sie Fahnen für eine Stoffdruckerei. Endlich spielt das Alter keine Rolle. Die Chefs sind offen. Ihre Qualifikation als Computergrafikerin verleiht ihr eine Sonderstellung im Betrieb.
In den Klauen des Alters
Ein leichter Sommerwind spielt mit den luftigen Bahnen der Vorhänge. Vera schenkt einen Tee ein, die Kunststoffohrringe mit dem leuchtenden Schriftzug „Nein“ schaukeln an ihren Ohren. Nein, wie 58 wirkt sie wahrlich nicht, diese Frau, die einen offen aus hellgrauen Augen anschaut, die strahlt mit schneeweißen Lachen. Und doch ist sie es. Als sie sich wieder selbstständig machte, hatte das Alter sie rasch wieder in den Klauen. Natürlich, nicht immer ist es das Alter allein, das die Tür zum Arbeitsmarkt versperrt. Natürlich heißt es manchmal auch schlicht: überqualifiziert, zu teuer. Und natürlich, nicht oft hört sie direkt: Sie sind zu alt.
Warum wollen Sie denn noch arbeiten?
Sie sind doch schon 58! Doch was sonst geht im Kopf von Kunden vor, die längst erteilte online-Aufträge nach einem Treffen stornieren? Was sonst bremst Interessenten, die im ersten Meeting haspeln: „Oh, wir dachten, sie seien viel jünger.“ Und sich nie wieder melden? Manche freilich machen keinen Hehl daraus. Wie jene Agenturbosse, die hinter Handrichs Rücken raunten: „Wenn wir so eine Alte hinter unsere Computer setzen, vergraulen wir doch die Kunden.“ Und wenn die Grafikerin mal wieder von einer Kollegin hört, dass in einem westdeutschen Unternehmen der Chef gedroht hat: „Entweder alle über 50 in der Abteilung gehen freiwillig oder die Hälfte der jüngeren wird zusätzlich entlassen“, dann weiß sie: Die Bilder vom Alter in der Gesellschaft sind so verhakt, dass ein Antidiskriminierungsgesetz es kaum ändern wird: „Wir sortieren die Menschen in Altersschubladen. Da kommen sie nicht mehr raus, so hungrig aufs Leben, so voll mit Wissen sie auch sein mögen.“ Erst recht, wenn sie 58 sind. „Wieso wollen Sie denn arbeiten?“ fragte jüngst die Sachbearbeiterin vom Jobcenter, die Vera Handrich aufsucht seit sie arbeitslos ist. „Nächsten Monat werden sie 58, da können Sie doch einen Rentenantrag stellen.“
Vera Handrich tat es trotzdem. Mit Erfolg. Seit vier Wochen entwickelt sie mit hochqualifizierten Menschen über fünfzig eine Zeitung für Migranten. Freiwillig, mit viel Spaß.
Zum vierten Mal in Berlin
Das riecht aber gut
Projekt Langzeitgedächtnis
Mein alter Freund