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Lebensart

Vergessen, vergangen, die Sütterlinschrift

Das S ist störrisch. In “Keks” beginnt es links unten, macht einen Looping, schießt nach rechts oben, tropft in einer Rechts­kurve aus. In “Kekse” wächst es bis auf die Größe eines Großbuch­stabens an und rast dann senkrecht hinab bis in Tiefen, in die sonst nur j und y kommen.

Sieben Frauen und ein Mann, alle älter als 40, kritzeln ihr nach, mit Bleistift in Erstkläss­ler­hefte: vier Linien pro Zeile, damit die Propor­tionen stimmen. Faroß unter­richtet Sütter­lin­schrift an der Volks­hoch­schule Norder­stedt. Fünfmal zwei Stunden, dann können die Schüler schreiben wie ihre Vorfahren – und Tagebücher, Briefe oder Rezepte von Opa, Tante oder Uronkel lesen. 

Martina Petzold möchte ein Poesie­album der Großmutter entziffern, Hans Baierlein alte Briefe. Jeder Schüler hier hat ein Erbstück zu Hause, das er nicht lesen kann. “Bald lebt niemand mehr, der Sütter­lin­schrift in der Schule gelernt hat”, sagt Hannelore Faroß. “Und wer soll dann die ganzen Zeitdo­ku­mente lesen?” Deshalb ist die pensio­nierte Sekre­tärin Lehrerin geworden, im Alter von 73 Jahren. Sie hat an einem Lehrbuch mitge­ar­beitet und bietet sogar einen Fernkurs an. 140 Leute haben mit ihrer Hilfe schon Lesen und Schreiben der Sütter­lin­schrift gelernt, viele Ahnen­for­scher waren dabei, selbst aus Israel kamen Anfragen. Die bisher jüngste Schülerin war 13 Jahre alt. Ein schwie­riger Fall, sagt Faroß: “Die neue Recht­schreibung und Sütterlin – das passt einfach nicht zusammen.” Wörter mit “ss” am Ende gibt es nämlich in der alten Schrift nicht. Faroß selbst war lange Zeit nicht klar, dass ihre Schrift­kennt­nisse etwas Beson­deres sind. Dann las sie einen Aufruf im Videotext des NDR: Der Hamburger Verein Sütter­lin­stube suchte pensio­nierten Nachwuchs, um Schrift­stücke von der deutschen in die latei­nische Schrift zu übertragen – Lebens­läufe, Grund­buch­ein­tra­gungen, Tagebücher, Briefe, Testamente.

Der Älteste ist über 90 Jahre alt, die jüngste Anfang 60
Mehr als 1500 Aufträge haben Faroß und ihre Vereins­kol­legen in den vergan­genen elf Jahren bearbeitet. Und jede Woche kommen neue Dokumente per Post oder E‑Mail, aus allen Teilen Deutschlands, aber auch aus den USA, Mexiko, Brasilien oder Australien. Manchmal ist nur eine Seite zu transkri­bieren, manchmal ein ganzes Buch. Und nicht immer handelt es sich um Sütter­lin­schrift. “Aber wer das lesen kann, kann auch viele andere deutsche Schriften lesen”, etwa Kurrent- oder Kanzlei­schrift, sagt Faroß. Das älteste Dokument, das die Sütter­lin­stube übertragen hat, ist eine Vermö­gens­auf­stellung aus dem Jahr 1550. Einmal pro Woche treffen sich die 28 Vereins­mit­glieder im Hamburger Alten­zentrum Ansgar. Ein ehema­liger Schul­leiter ist dabei, eine pensio­nierte Sozial­ar­bei­terin, ein Facharzt für Innere Medizin, eine Chemie-Techni­kerin, ein Einzel­han­dels­kaufmann im Ruhestand. Der Älteste ist über 90 Jahre alt, die jüngste Anfang 60. Manche kommen mit Stock oder Rollator, im Altenheim wohnt keiner von ihnen. Peter Hohn, pensio­nierter Physiker und Vorsit­zender des Vereins, verteilt dort nur die Schriften und nimmt die Transkrip­tionen entgegen, viele haben ihre auf USB-Sticks gespei­chert. Per E‑Mail schickt Hohn sie zurück an die Auftraggeber.

Jeder Schüler hier hat ein Erbstück zu Hause, das er nicht lesen kann.

Das Transkri­bieren alter Schriften ist ein lukra­tives Geschäft: Im Internet gibt es etliche Anbieter, die meisten verlangen fünf bis zehn Euro pro Seite. “Das können sich doch viele gar nicht leisten”, sagt Faroß. Gerade Studenten seien mit solchen Preisen überfordert – und bräuchten oft dringend latei­nische Fassungen alter Schriften. Die Sütter­lin­stube ist ein gemein­nüt­ziger Verein. Peter Hohn und seine Mitstreiter arbeiten ehren­amtlich, nur um eine Spende bitten sie, die geben sie ans Altenheim weiter. Die Summe ist jedes Jahr so hoch, dass schon mehrmals das Finanzamt nachge­fragt hat, was die Senioren denn da eigentlich treiben. “Sch-ö-ne Bäu-me ste-hen am schö-nen S‑ee”, liest Martina Petzold vor. “An ei-nem Ta-nnen-bau‑m ist Ta-nnen-baum-sch-mu-ck”, macht ihre Sitznach­barin weiter, sie lacht. “Ihr sollt nicht immer über meine Sätze lachen, ist schwer genug”, ruft Faroß. Für jede Unter­richts­stunde kreiert sie neue Sätze mit den Buchstaben, die ihre Schüler schon können. Das N haben sie zuerst gelernt, dann folgte das E, mittler­weile sind sie beim S, “dem schwie­rigsten Buchstaben”, wie Faroß sagt. Das runde S steht immer am Ende eines Wortes oder vor Nachsilben wie ‑chen oder ‑haft, das lange S an allen anderen Stellen. Das S in Häschen sieht deshalb in Sütter­lin­schrift anders aus als das S in Hase.

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Für jeden Schreib­fehler verlangte der Geliebte einen Kuss
Faroß hat ihren Unter­richt streng getaktet: Leseübung, Diktat, Leseübung, Diktat. Dazwi­schen geht sie von Heft zu Heft und kontrol­liert. “Das streichen Sie mal schnell durch”, sagt sie bei der einen Schülerin, “was ist das denn?” bei der anderen. In der Sütter­lin­schrift sieht das E aus wie ein N, das H wie ein F, das U wie ein Ü. Beim Vorlesen kommt es leicht zu Verwechs­lungen, da werden Möwen aus Mägden und Hosen aus dem Hahn. “Nee”, ruft Faroß dann laut, oder “niemals nich!” Die Pausen nutzt sie, um von besonders schönen, lustigen oder erschre­ckenden Aufträgen aus der Sütter­lin­stube zu erzählen. Diesmal berichtet sie von den Postkarten eines jungen Pärchens aus Ungarn. Für jeden Schreib­fehler verlangte der Geliebte einen Kuss. Und beschwerte sich dann auf der nächsten Karte, dass ihre Ortho­grafie zu gut sei.

Die Geschichte zählt
Die zweite Anekdote ist weniger amüsant: Faroß transkri­bierte die Briefe eines Propa­ganda-Offiziers aus dem “Dritten Reich”. Dessen Sohn, ein Englisch­pro­fessor aus Philadelphia, hatte sie aus den USA an die Sütter­lin­stube geschickt – und erfuhr durch die Transkription zum ersten Mal Einzel­heiten über das Leben seines Vaters während des Natio­nal­so­zia­lismus. Der deutsche Professor in Philadelphia ist mit dem Sohn einer Holocaust-Überle­benden befreundet, der ebenfalls Briefe der Mutter besitzt. Die beiden setzten sich zusammen, kreierten schließlich ein Theater­stück, für das sie 2008 bei den Hamburger Kammer­spielen auf der Bühne standen. “Ich habe eine Hochzeit sausen lassen, um bei der Premiere dabei zu sein”, sagt Faroß. Denn letztlich zähle ja nicht die Schrift, sondern die Geschichte, die sie erzählt.

Quelle: Spiegel online

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2 Kommentare zu: Vergessen, vergangen, die Sütterlinschrift

  1. Die Sütter­lin­schrift übersetzen kann man auch anderen überlassen. Wir haben das alte Tagebuch meiner Oma damals abgegeben. Mein Opa konnte sie noch lesen, aber es inter­es­sierte sich niemand dafür und dann ging sie verloren. Wer selbst transkri­bieren kann, für den ist es natürlich günstiger. Letztlich muss man abwägen, ob man die Schrift zu lesen lernt oder sie in die Transkription gibt.

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